(...) Tango ist kein Folklore-Tanz, da er von der Landbevölkerung niemals übernommen wurde. Er ist untrennbar mit dem Leben der städtischen Nächte verbunden und entstand in den Bordellen der Vorstädte, hauptsächlich denen von Buenos Aires, nicht zuletzt, da diese die einzigen öffentlichen Orte waren, an denen man sich auch ein Ensemble von Musikern leisten konnte - Prostitution als Kulturförderung.
Sehr viel später infizierte der sog. Tango-Virus (ein unerträglich abgedroschener - doch schier unersetzbar zutreffender Begriff) die Pariser High-Society, über das Meer getragen von argentinischen Tänzern und Musikern, die in Frankreich ihr Glück versuchten.
In ihre Schar reihte sich später auch der legendäre Carlos Gardel, dessen Mutter, eine einfache Wäscherin, aus Lyon stammte.
Über den Umweg des vom argentinischen Großbürgertum bewunderten Paris kehrte der Tango nun in Ehren nach Buenos Aires zurück, wo er von immer weiteren Schichten der städtischen Bevölkerung angenommen wurde und schließlich Einlaß in die Salons der Bourgeoisie fand. Auch das Kleinbürgertum übernahm ihn. Und zwischen den 30er und 50er Jahren durfte er auf keinem Fest fehlen.
Nachdem der Tango über sein anrüchiges Geburts-Milieu hinausgewachsen war, bildete sich ein neuer Typus des Tangotänzers aus, der Milonguero, der auch heute noch überall präsent ist, wo Tango getanzt wird. Im Gegensatz zum Compadre übt der typische Milonguero einen bürgerlichen Beruf aus und widmet seine Freizeit voller Hingabe dem Tango. Auch er hält viel auf geschliffene Umgangsformen. Sowohl sein Umgang außerhalb, als auch innerhalb des Salons zeichnet sich durch Achtsamkeit -, sein Verhalten durch Sozialverträglichkeit aus.
(...) Obwohl Tango in seiner Quint-Essenz das ausdrückt, wonach sich moderne Großstädter sehnen, so ist es doch ironischerweise gerade der kalte Wind des Zeitgeists, der diesem Tango - bei zunehmender Verbreitung - doch immer mehr seine Wesensflamme heute ausbläst. (-)
Auszug aus dem Buch von Ralf Sartori